LVwG-750118/9/Gf/Rt

Linz, 17.04.2014

I M  N A M E N  D E R  R E P U B L I K !

 

 

 

Geschäftszeichen:                                                                                                                                                                                                                                                 Datum:

LVwG-750118/9/Gf/Rt                                                                        Linz, 17. April 2014

 

 

 

 

 

Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat durch seinen Einzelrichter Dr. Alfred Grof über die Beschwerde der X, X, gegen den Bescheid des Bezirkshauptmannes von Freistadt vom 18. Oktober 2013, Zl. Sich40-7932, wegen Abweisung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz

 

z u  R e c h t  e r k a n n t:

 

 

I.          Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 und 3 VwGVG stattgegeben, der angefochtene Bescheid aufgehoben und die belangte Behörde dazu verpflichtet, der Beschwerdeführerin eine Niederlassungsbewilligung nach § 43 Abs. 3 NAG zu erteilen. 

 

II.         Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig.

 

III.        Das Verhandlungsprotokoll wird zum integrierenden Bestandteil der Begründung dieses Erkenntnisses erklärt.

 

 

 

 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I.

 

 

1. Mit Bescheid des Bezirkshauptmannes von Freistadt vom 18. Oktober 2013, Zl. Sich40-7932, wurde der von der Rechtsmittelwerberin am 29. April 2013 gestellte Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Abs. 3 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (im Folgenden: NAG), BGBl.Nr. I 100/2005 „in der Fassung BGBl. I Nr. 16/2011“, abgewiesen.

 

Begründend wurde dazu ausgeführt, dass die in Aserbaidschan geborene und der armenischen Volksgruppe angehörige Rechtsmittelwerberin im Jahr 2010 illegal in das Bundesgebiet eingereist sei und einen Asylantrag gestellt habe. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 12. Juni 2012 sei dieser jedoch rechtskräftig abgewiesen und unter einem ihre Ausweisung verfügt worden. Darauf hin habe sie am 25. Juni 2012 gegenüber der belangten Behörde niederschriftlich erklärt, einen armenischen Reisepass beantragen und Österreich freiwillig verlassen zu wollen.

 

Dessen ungeachtet habe sie allerdings am 29. April 2013 einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung eingebracht und diesen unter Vorlage entsprechender Nachweise im Wesentlichen damit begründet, dass seit der Ausweisungsentscheidung insofern eine maßgebliche Sachverhaltsänderung eingetreten sei, als sie einen Deutschkurs absolviert und diesen auf A-2-Niveau erfolgreich abgeschlossen habe, dass sie für den Fall einer positiven Erledigung ihres Antrages auch eine verbindliche Zusage für ein Beschäftigungsverhältnis hätte und dass sie in ihrem sozialen Umfeld höchst engagiert und bereits hervorragend integriert sei; außerdem sei sie strafrechtlich unbescholten und hätte zudem keinerlei Beziehung mehr zu ihren Herkunftsstaaten.

 

Dem gegenüber sei jedoch darauf hinzuweisen, dass ihre Deutschkenntnisse und der Grad ihrer sozialen Integration bereits im Asylverfahren berücksichtigt worden seien. Da der Zeitraum zwischen der Ausweisung und der Antragstellung auf Erteilung einer Niederlassung nicht einmal zwei Jahre betragen habe, könne sohin auch keine Rede von einer maßgeblichen Änderung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts sein. Außerdem würde die Rechtsmittelwerberin nach der von ihr vorgelegten Option auf einen Dienstvertrag bei einem Beschäftigungsausmaß von 10 Wochenstunden bloß einen monatlichen Bruttolohn von ca. 318 Euro erhalten; und schließlich könne ihr auch die Nichtausstellung eines Reisepasses durch die armenischen Behörden nicht zum Vorteil gereichen.

 

Mangels wesentlicher Sachverhaltsänderungen komme daher eine positive Neubeurteilung der in Art. 8 EMRK vorgesehenen Interessenabwägung nicht in Betracht.

 

2. Gegen diesen ihr am 21. Oktober 2013 zugestellten Bescheid richtet sich die vorliegende, am 4. November 2013 bei der Erstbehörde eingelangte – und damit jedenfalls rechtzeitige – Berufung.

 

Darin wird eingewendet, dass sie nicht bloß bis zur Ausweisungsentscheidung durch den Asylgerichtshof, sondern auch danach mehrere Deutschkurse besucht und sich bei verschiedenen Institutionen ehrenamtlich engagiert habe. Dadurch hätten sich sowohl ihre Sprachkenntnisse als auch ihre sozialen Kontakte noch in einem erheblichen Ausmaß weiter vertieft, wie dies auch die erst im Nachhinein abgelegte Prüfung auf A-2-Niveau und die in der Folge erstellten zahlreichen Unterstützungsschreiben aus ihrem Bekanntenkreis belegen würden. Dazu komme, dass sie sich vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet auch in Russland jahrelang nur illegal habe aufhalten können und Österreich nunmehr schon deshalb gar nicht ordnungsgemäß verlassen könne, weil sie von den armenischen Behörden als Staatenlose angesehen und ihr somit kein Reisedokument ausgestellt werde. Schließlich sei ihr mittlerweile für den Fall einer positiven Erledigung ihres Ansuchens auch eine Anstellung in der Gastronomie im Ausmaß von 40 Wochenstunden angeboten worden, sodass sie dann durchaus dazu in der Lage wäre, die Kosten ihres künftigen Aufenthaltes in Österreich aus eigenem zu finanzieren.

 

Da eine Interessenabwägung i.S.d. Art. 8 EMRK auf Grund der zwischenzeitlichen Änderungen des maßgeblichen Sachverhaltes zweifellos zu ihren Gunsten ausfallen müsse, wird daher beantragt, der Beschwerdeführerin eine Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Abs. 3 NAG zu erteilen, in eventu, ihren Antrag als dahin modifiziert anzusehen, dass ihr nach § 41a Abs. 9 NAG eine „Rot-Weiß-Rot–Karte plus“ ausgestellt werden möge. 

 

3. Mit Schriftsatz vom 21. Jänner 2014, Zl. 165438/3, hat das Bundesministerium für Inneres diese Berufung im Hinblick auf die mit der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle BGBl.Nr. I 50/2012 seit dem 1. Jänner 2014 geänderte Rechtslage dem Landesverwaltungsgericht Oberösterreich zur Entscheidung vorgelegt.

 

 

II.

 

1. Gemäß Art. 131 Abs. 1 B-VG i.V.m. Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG erkennen über wegen Rechtswidrigkeit erhobene Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde (sofern nicht ein Fall des Art. 132 Abs. 6 B-VG – nämlich eine Angelegenheit des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde – vorliegt, was jedoch gegenständlich nicht zutrifft) die Verwaltungsgerichte der Länder.

 

Da hier die Bestimmungen des Art. 131 Abs. 2 bis 4 B-VG über von diesem Grundsatz abweichende Anordnungen nicht zum Tragen kommen (vgl. auch § 81 Abs. 26 NAG i.d.g.F. BGBl.Nr. I 144/2013), ist somit nach der Generalklausel des Art. 131 Abs. 1 B-VG die funktionelle und örtliche Zuständigkeit des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich gegeben.  

 

2. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Akt der Bezirkshauptmannschaft Freistadt zu Zl. Sich40-7932 sowie im Wege der Durchführung einer öffentlichen Verhandlung am 11. April 2014, zu der als Partei die Beschwerdeführerin sowie deren Rechtsvertreterin X (X) erschienen ist.

 

2.1. Im Zuge dieser Beweisaufnahme wurde folgender entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt:

 

Die Beschwerdeführerin wurde in Aserbaidschan geboren und ist Angehörige der armenischen Volksgruppe; ob sie Staatsbürgerin von Aserbaidschan oder von Armenien ist, ließ sich bislang nicht zweifelsfrei feststellen. Weil sie in Baku geboren wurde, wurde ihr von den aserbaidschanischen Behörden zwar eine Geburtsurkunde ausgestellt, nicht jedoch in der Folge auch ein Staatsbürgerschaftsnachweis oder ein Reisepass. Vielmehr wurde sie im Alter von 17 Jahren wegen ihrer armenischen Volksgruppenzugehörigkeit aus Aserbaidschan vertrieben und hielt sich anschließend 21 Jahre lang illegal in Russland auf, sodass sie auch von diesem Staat weder einen Staatsbürgerschaftsnachweis noch Reisedokumente erhalten hat.

 

Im November 2010 ist sie widerrechtlich in das Bundesgebiet eingereist und hat hier einen Asylantrag gestellt. Dieser wurde schließlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 12. Juni 2012, Zl. E9-420230-1/2011-8E, rechtskräftig abgewiesen; unter einem wurde auch ihre Ausweisung aus Österreich verfügt.

 

Am 29. April 2013 hat die Rechtsmittelwerberin einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung nach § 43 Abs. 3 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes gestellt und diesen unter Vorlage entsprechender Belege im Wesentlichen damit begründet, dass seit der Ausweisungsentscheidung insofern eine maßgebliche Sachverhaltsänderung eingetreten sei, als sie einen Deutschkurs absolviert und diesen auf A-2-Niveau abgeschlossen habe, dass sie für den Fall einer positiven Erledigung ihres Antrages auch eine verbindliche Zusage für ein Arbeitsverhältnis hätte und dass sie in ihrem sozialen Umfeld sehr engagiert und bereits hervorragend integriert sei. Außerdem sei sie strafrechtlich unbescholten. Zu ihren Herkunftsländern (Aserbaidschan bzw. Russland) weise sie keinerlei Beziehungen mehr auf.

 

Mit Bescheid des Bezirkshauptmannes von Freistadt vom 18. Oktober 2013, Zl. Sich40-7932, wurde dieser Antrag abgewiesen. Dagegen hat die Rechtsmittelwerberin rechtzeitig Berufung erhoben.

 

In der Folge hat sie einen Deutschkurs zur Vorbereitung auf die Prüfung auf B-1-Niveau besucht und zahlreiche weitere Unterstützungserklärungen von Bekannten, die ihren Aufenthalt in Österreich befürworten, erhalten. Darüber hinaus liegt eine Option für eine Beschäftigung der Beschwerdeführerin als Köchin im Ausmaß von 40 Wochenstunden bei einem Bruttolohn von 1.338 Euro im Monat vor. Faktisch hält sich die Beschwerdeführerin seit dem 22. November 2010 durchgängig in Österreich auf und wohnt in X. Sie ist ehrenamtlich sowohl bei einer Einrichtung, die Flüchtlinge mitbetreut („Agenda 21“), als auch in einem Sozialmarkt in X und für Sozialeinrichtungen der Gemeinde X tätig, wofür sie von ihrem über 30 Personen umfassenden Bekanntenkreis mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfes unterstützt wird. Über die Grundversorgung ist sie krankenversichert.

 

Ein Heimreisezertifikat oder ein sonstiges Reisedokument wurde für die Rechtsmittelwerberin weder von Armenien noch von Aserbaidschan noch von Russland ausgestellt. Zu ihrer früheren Heimat Aserbaidschan und zu Russland hat sie keinerlei Beziehungen; in Armenien hat sie sich trotz ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe zeitlebens nie aufgehalten.

 

2.2. Diese Sachverhaltsfeststellungen gründen sich auf den Inhalt des von der belangten Behörde vorgelegten Aktes sowie auf die glaubwürdigen und widerspruchsfreien Aussagen der in der öffentlichen Verhandlung unter Wahrheitspflicht einvernommenen Beschwerdeführerin.

 

2.3. Unter einem wird das Verhandlungsprotokoll zum integrierenden Bestandteil der Begründung dieses Erkenntnisses erklärt (vgl. VwSlg 11911 A/1985).

 

 

III.

 

1. Zu den maßgeblichen Rechtsgrundlagen:

 

1.1. Aus der Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 26 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes, BGBl.Nr. I 100/2005, in der derzeit geltenden Fassung BGBl.Nr. I 144/2013, folgt, dass die belangte Behörde zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (ungeachtet des insoweit unzutreffenden Hinweises „in der Fassung BGBl. I Nr. 16/2011“ im angefochtenen Bescheid) dieses Gesetz in seiner Fassung BGBl.Nr. I 50/2012 (im Folgenden kurz: NAG) anzuwenden hatte.

 

Denn im vorangeführten § 81 Abs. 26 NAG i.d.g.F. ist hinsichtlich der mit Ablauf des 31. Dezember 2013 bei der Bundesministerin für Inneres anhängig gewesenen Berufungsverfahren festgelegt, dass diese vom zuständigen Landesverwaltungsgericht nach dem NAG „in der Fassung vor der Novelle BGBl.Nr. I 87/2012“ – d.i. das sog. „Fremdenbehördenneustrukturierungsgesetz“, mit dem u.a. das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) eingerichtet wurde – und damit also in der Fassung BGBl.Nr. I 50/2012 „zu Ende zu führen“ sind.

 

Insgesamt ergibt sich somit, dass für die gegenständliche Entscheidung das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz in der Fassung BGBl.Nr. I 50/2012 (im Folgenden kurz: NAG) – und nicht die geltende Fassung BGBl.Nr. I 144/2013, aber auch noch nicht die „BFA-Novelle“ BGBl.Nr. I 87/2012 – maßgeblich ist.

 

1.2. Analog gilt dies auch hinsichtlich der im NAG explizit oder implizit enthaltenen Verweisungen auf das Fremdenpolizeigesetz (sohin: BGBl.Nr. I 100/2005 i.d.F. BGBl.Nr. I 50/2012, im Folgenden: FPG; vgl. dazu auch § 125 Abs. 23 FPG i.d.g.F. BGBl.Nr. I 144/2013).

 

1.3.1. Gemäß § 43 Abs. 3 NAG war im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen vom Landeshauptmann – bzw. allenfalls von den Bezirksverwaltungsbehörden im Namen des Landeshauptmannes (vgl. z.B. § 3 Abs. 1 zweiter Satz NAG i.V.m. § 1 der Verordnung des Landeshauptmannes von Oberösterreich LGBl.Nr. 127/2005) – eine Niederlassungsbewilligung zu erteilen, wenn kein Erteilungshindernis i.S.d. § 11 Abs. 1 Z. 1, Z. 2 oder Z. 4 NAG vorlag und dies nach § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten war.

 

Gemäß § 11 Abs. 1 NAG durfte einem Fremden – mit Blick auf die verfahrensgegenständliche Fallkonstellation – ein Aufenthaltstitel u.a. dann nicht erteilt werden, wenn gegen ihn eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG erlassen worden war (Z. 1), gegen ihn eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz bestand (Z. 2) oder eine Aufenthaltsehe, eine Aufenthaltspartnerschaft oder eine Aufenthaltsadoption (§ 30 Abs. 1 oder 2 NAG) vorlag (Z. 4).

 

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK waren nach § 11 Abs. 3 NAG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen rechtswidrig war (Z. 1); das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z. 2); die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z. 3); der Grad der Integration (Z. 4); die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen (Z. 5); die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z. 6); Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z. 7); die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z. 8); und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z. 9), zu berücksichtigen.

 

1.3.2. Gemäß § 41a Abs. 9 NAG war einem im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot–Karte plus“ zu erteilen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG vorlag, dies gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten war und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 14a NAG) erfüllt hatte oder zum Entscheidungszeitpunkt bereits eine Erwerbstätigkeit ausübte.

 

1.3.3. Nach § 8 Abs. 1 Z. 2 NAG berechtigte der Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot–Karte plus“ den Fremden zur befristeten Niederlassung und zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit sowie einer unselbständigen Erwerbstätigkeit i.S.d. § 17 des Ausländerbeschäftigungsgesetzes, BGBl.Nr. 218/1975 i.d.F. BGBl.Nr. I 72/2013 (im Folgenden: AuslBG), also zum unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt im gesamten Bundesgebiet.

 

Eine „Niederlassungsbewilligung“ gestattete einem Fremden hingegen nur die befristeten Niederlassung und die Ausübung einer selbständigen bzw. einer solchen unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG vorlag.

 

 

2. In der Sache selbst hat das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich erwogen:

 

 

2.1. Im Lichte des § 43 Abs. 3 NAG bzw. des § 41a Abs. 9 NAG ist im gegenständlichen Fall zunächst allseits unbestritten, dass die Rechtsmittelwerberin als eine Drittstaatsangehörige i.S.d. § 2 Abs. 1 Z. 6 NAG anzusehen ist, weil sie weder EWR-Bürgerin noch Schweizer Bürgerin ist.

 

2.2. Mit Blick auf die vom Asylgerichtshof in Spruchpunkt III. des Erkenntnisses vom 12. Juni 2012, Zl. E9-420230-1/2011-8E, verfügte Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet handelt es sich hierbei zwar um eine Rückkehrentscheidung (vgl. zu diesem Begriff die Legaldefinition des Art. 3 Z. 4 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 – sog. „Rückführungsrichtlinie“) i.S.d. § 11 Abs. 1 Z. 1 NAG.

 

Allerdings ist diese Ausweisung de facto nicht durchsetzbar, weil – wie sich aus dem von der belangten Behörde vorgelegten Akt ergibt – trotz entsprechender Urgenzen der Fremdenpolizeibehörde keiner der in Betracht kommenden Staaten für die Beschwerdeführerin ein Heimreisezertifikat ausgestellt hat.

 

Daher ist auch die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides zutreffend davon ausgegangen, dass ein Erteilungshindernis im Hinblick auf § 11 Abs. 1 Z. 1 NAG, sachverhaltsbezogen aber auch ein solches nach § 11 Abs. 2 und Abs. 4 NAG, nicht vorliegt.

 

2.3. Hinsichtlich der sowohl nach § 43 Abs. 3 Z. 2 NAG im Zuge der Erteilung einer Niederlassungsbewilligung als auch gemäß § 41a Abs. Z. 2 NAG bei der Erteilung einer „Rot-Weiß-Rot–Karte plus“ vorzunehmenden Prüfung, ob die Gewährung eines solchen Aufenthaltstitels i.S.d. Art. 8 EMRK i.V.m. § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung (hier:) des Privatlebens der Beschwerdeführerin geboten war, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass zwar bereits vom Bundesasylamt in dessen Bescheid vom 24. Juni 2011, Zl. FZ-1010966-BAL, und auch vom Asylgerichtshof in dessen Erkenntnis vom 12. Juni 2012, Zl. E9-420230-1/2011-8E, jeweils eine entsprechende Interessenabwägung vorgenommen wurde.

 

Diese Abwägung erfolgte jedoch ausschließlich im Rahmen eines Asylverfahrens und vermochte somit schon aus diesem Grund – ganz abgesehen davon, dass prinzipiell lediglich dem Spruch, nicht aber auch der Begründung eines Bescheides normative Wirkung zukommen kann – keine inhaltliche Bindungswirkung für die das NAG vollziehende Behörden zu entfalten. Dazu kommt, dass die im Asylverfahren vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfungen jeweils bereits zu vergleichsweise früheren Zeitpunkten erfolgten, sodass diese jene sich danach bis zur Entscheidung über den beantragten Aufenthaltstitel ereignet habenden Sachverhaltsänderungen naturgemäß noch nicht mit einbeziehen konnten.

 

Ungeachtet des Umstandes, dass die gesetzlichen Voraussetzungen – wie ein Blick auf § 11 Abs. 3 NAG und § 10 Abs. 2 des Asylgesetzes, BGBl.Nr. 100/2005 i.d.F. BGBl.Nr. I 144/2013, zeigt – formal jeweils identisch sind, hätte die zur Vollziehung des vom Asylverfahren zu trennenden Niederlassungsverfahrens berufene belangte Behörde daher insbesondere schon angesichts des zwischenzeitlich verstrichenen Zeitraumes von nahezu eineinhalb Jahren aus eigenem eine entsprechende Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen gehabt.

 

2.4. Indem eine solche jedoch einerseits – wie der Begründung des angefochtenen Bescheides zweifelsfrei entnommen werden kann – bewusst unterblieben ist und andererseits von der belangten Behörde auch kein formaler Widerspruch erhoben wurde, war die nach Art. 8 EMRK erforderliche Verhältnismäßigkeitsprüfung sohin nach § 28 Abs. 2 und 3 VwGVG vom Landesverwaltungsgericht Oberösterreich im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens vorzunehmen.

 

In diesem Zusammenhang ist allerdings vorweg darauf hinzuweisen, dass die in § 11 Abs. 3 NAG normierten Parameter einerseits weder als taxativ (arg. „insbesondere“) noch als kumulativ anzusehen, d.h., dass von den in dieser Bestimmung genannten nur jene Kriterien heranzuziehen sind, die auch einen entsprechenden Bezug zum konkret vorliegenden Sachverhalt aufweisen. Liegt beispielsweise de facto – wie hier – kein Familienleben vor, dann ist eben § 11 Abs. 3 Z. 2 NAG schon a priori unmaßgeblich.

 

2.4.1. Hinsichtlich der Art und Dauer des Aufenthalts der Beschwerdeführerin i.S.d. § 11 Abs. 3 Z. 1 NAG hat sich ergeben, dass dieser – allseits unbestritten – seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet im November 2010, also seit nunmehr etwa 3 1/2 Jahren, illegal ist.

 

2.4.2. In Bezug auf die Schutzwürdigkeit des Privatlebens i.S.d. § 11 Abs. 3 Z. 3 NAG ist insbesondere offensichtlich, dass die Rechtssphäre der Rechtsmittelwerberin zweifelsfrei insofern wesentlich tangiert wird, als die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels – wie sich aus § 8 NAG ergibt – zu deren Ausschluss vom Zugang zum Arbeitsmarkt führt und damit die ihr nach Art. 8 EMRK gewährleisteten Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentfaltung, im Besonderen zur finanziellen Selbsterhaltungsfähigkeit (vgl. dazu Frowein – Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Auflage, Kehl 2009, S. 289, RN 3 zu Art. 8 EMRK, und Grabenwarter – Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Auflage, München 2012, S. 233 f, RN 13 zu § 22; jeweils m.w.N.), wesentlich beschränkt.

 

2.4.3. Hinsichtlich des Grades ihrer Integration hat die Beschwerdeführerin auf ihre zwischenzeitlich jahrelange und ehrenamtliche Mitarbeit bei sozialen Einrichtungen – nämlich: in der Flüchtlingsbetreuung „Agenda 21“, in einem Sozialmarkt in X und in der Gemeinde X –, auf ihren mittlerweile auf über 30 Personen angewachsenen Freundes- und Bekanntenkreis sowie auf zahlreiche Unterstützungserklärungen für ihren Weiterverbleib im Bundesgebiet hingewiesen.

 

All dies blieb auch von der belangten Behörde unwidersprochen, sodass objektiv besehen von einem hohen Grad an sozialer Integration i.S.d. § 11 Abs. 3 Z. 4 NAG auszugehen ist.

 

2.4.4. Dass dem gegenüber gemäß § 11 Abs. 3 Z. 5 NAG keine Bindungen zu jenen Ländern vorliegt, in denen sie sich vor ihrer illegalen Einreise nach Österreich aufgehalten hat, ist schon deshalb unschwer nachvollziehbar, weil die am X geborene Rechtsmittelwerberin ihr Geburtsland bereits im Alter von 17 Jahren fluchtartig verlassen und sie sich in der Folge weitere 21 Jahre lang als illegaler Flüchtling im Moskauer Untergrund aufhalten musste.

 

Auch diesem Vorbringen ist die belangte Behörde nicht entgegengetreten.

 

2.4.5. Die Beschwerdeführerin wurde während ihres Aufenthalts in Österreich i.S.d. § 11 Abs. 3 Z. 6 NAG bislang weder verurteilt noch in irgendeiner Weise der Begehung gerichtlich strafbarer Handlungen verdächtigt; allerdings ist offenkundig, dass sie i.S.d. § 11 Abs. 3 Z. 7 NAG zahlreiche Verstöße gegen asyl-, fremden- und einwanderungsrechtliche Vorschriften begangen hat, wenngleich diese bislang formal-verwaltungsstrafrechtlich (noch) nicht geahndet wurden.

 

2.4.6. Weitere, zu den in § 11 Abs. 3 Z. 1 bis 9 NAG explizit normierten Determinanten noch zusätzlich zu berücksichtigende Kriterien haben sich im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Oberösterreich nicht ergeben.

 

2.4.7. Stellt man im Zuge einer Gesamtbetrachtung nun jene gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels sprechenden Anhaltspunkte – nämlich: 31/2-jähriger illegaler Aufenthalt im Bundesgebiet und verwaltungsstrafrechtlich sanktionierte Verstöße gegen ordnungsrechtliche Vorschriften – die für eine positive Antragserledigung streitenden Aspekte – nämlich: Verweigerung des Zuganges zum Arbeitsmarkt und der damit verbundenen Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung und der Selbsterhaltungsfähigkeit; hoher Grad an sozialer Integration; keinerlei Bindung zu den Herkunftsländern; keine Auffälligkeit  in Bezug auf gerichtlich strafbare Handlungen – gegenüber, so zeigt sich, dass unter Umständen, wie diese im konkreten Fall, in dem auf Grund der faktisch bereits weit fortgeschrittenen sozialen Integration öffentliche Interessen mittlerweile nur mehr marginal tangiert werden, gegeben sind, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels einen inadäquaten und damit unverhältnismäßigen Eingriff in das der Beschwerdeführerin gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK verfassungsmäßig gewährleistete Recht auf Privatleben nach sich ziehen würde.

 

Da die Interessenabwägung hier also deutlich zu Gunsten der Beschwerdeführerin ausfällt, ist sohin die Voraussetzung des § 43 Abs. 3 Z. 2 NAG bzw. des § 41a Abs. 9 NAG jeweils als erfüllt anzusehen.

 

2.5. Dem gegenüber liegt aber eine sog. „Integrationsvereinbarung“ i.S.d. § 14 NAG im gegenständlichen Fall zweifelsfrei schon deshalb nicht vor, weil der Rechtsmittelwerberin bislang eben noch kein Aufenthaltstitel i.S.d. § 14a Abs. 1 NAG erteilt wurde. Davon abgesehen lässt sich auch mangels eines entsprechenden Nachweises hierüber nicht verifizieren, ob die von ihr besuchten Deutschkurse und eine hierüber erfolgreich abgelegte Prüfung auch formal den Anforderungen des § 14 Abs. 4 NAG entspricht.

 

Vor diesem Hintergrund war daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin gegenwärtig die Voraussetzung des § 41a Abs. 9 Z. 3 NAG nicht erfüllt.

 

 

3. Entscheidung

 

 

Aus allen diesen Gründen war daher der gegenständlichen Beschwerde nach § 28 Abs. 2 und 3 VwGVG stattzugeben, der angefochtene Bescheid aufzuheben und die belangte Behörde dazu zu verpflichten, der Beschwerdeführerin eine Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Abs. 3 NAG zu erteilen.

 

 

IV.

 

Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision nicht zulässig, weil im gegenständlichen Verfahren keine Rechtsfrage zu lösen war, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukommt, da eine Rechtspre-chung des Verfassungsgerichtshofes bzw. des Verwaltungsgerichtshofes zu den im vorliegenden Fall zu lösenden Rechtsfragen weder fehlt noch uneinheitlich ist noch mit der gegenständlichen Entscheidung von dieser abgewichen wurde.

 

R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g

Gegen dieses Erkenntnis kann innerhalb von sechs Wochen ab dem Tag der Zustellung eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof und/oder eine außerordentliche Revision beim Verwaltungsgerichtshof erhoben werden. Eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ist unmittelbar bei diesem einzubringen, eine außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof hingegen beim Landesverwaltungsgericht Oberösterreich. Die Abfassung und die Einbringung einer Beschwerde bzw. einer Revision müssen durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt erfolgen. Für die Beschwerde bzw. Revision ist eine Eingabegebühr von je 240 Euro zu entrichten.

 

 

 

Landesverwaltungsgericht Oberösterreich

Dr.  G r o f


 

 

 

LVwG-750118/9/Gf/Rt vom 17. April 2014

 

Erkenntnis

 

Rechtssatz

 

Art. 8 EMRK;

Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG;

§ 11 NAG;

§ 41a NAG;

§ 43 NAG;

§ 28 VwGVG

 

* Aus der Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 26 NAG idgF BGBl.Nr. I 144/2013 resultiert, dass die mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim BMI anhängig gewesenen Berufungsverfahren vom zuständigen LVwG nach dem NAG in der Fassung BGBl.Nr. I 50/2012 zu Ende zu führen sind, d.h., dass die sog. „BFA-Novelle“ BGBl.Nr. I 87/2012 insoweit noch nicht maßgeblich ist.

 

* Hinsichtlich der sowohl nach § 43 Abs. 3 Z. 2 NAG im Zuge der Erteilung einer Niederlassungsbewilligung als auch gemäß § 41a Abs. Z. 2 NAG bei der Erteilung einer „Rot-Weiß-Rot–Karte plus“ vorzunehmenden Prüfung, ob die Gewährung eines solchen Aufenthaltstitels i.S.d. Art. 8 EMRK i.V.m. § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung (hier:) des Privatlebens der Beschwerdeführerin geboten war, wurde zwar bereits vom Bundesasylamt in dessen Bescheid vom 24. Juni 2011 und auch vom Asylgerichtshof in dessen Erkenntnis vom 12. Juni 2012 jeweils eine entsprechende Interessenabwägung durchgeführt. Diese Abwägung erfolgte jedoch ausschließlich im Rahmen eines Asylverfahrens und vermochte somit schon aus diesem Grund – ganz abgesehen davon, dass prinzipiell lediglich dem Spruch, nicht aber auch der Begründung eines Bescheides normative Wirkung zukommen kann – keine inhaltliche Bindungswirkung für die das NAG vollziehende Behörden zu entfalten. Dazu kommt, dass die im Asylverfahren vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfungen jeweils bereits zu vergleichsweise früheren Zeitpunkten erfolgten, sodass diese jene sich danach bis zur Entscheidung über den beantragten Aufenthaltstitel ereignet habenden Sachverhaltsänderungen naturgemäß noch nicht mit einbeziehen konnten. Ungeachtet des Umstandes, dass die gesetzlichen Voraussetzungen – wie ein Blick auf § 11 Abs. 3 NAG und § 10 Abs. 2 des Asylgesetzes, BGBl.Nr. 100/2005 i.d.F. BGBl.Nr. I 144/2013, zeigt – formal jeweils identisch sind, hätte die zur Vollziehung des vom Asylverfahren zu trennenden Niederlassungsverfahrens berufene belangte Behörde daher insbesondere schon angesichts des zwischenzeitlich verstrichenen Zeitraumes von nahezu eineinhalb Jahren aus eigenem eine entsprechende Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen gehabt.

 

* Indem eine solche jedoch einerseits – wie der Begründung des angefochtenen Bescheides zweifelsfrei entnommen werden kann – bewusst unterblieben ist und andererseits von der belangten Behörde auch kein formaler Widerspruch erhoben wurde, war die nach Art. 8 EMRK erforderliche Verhältnismäßigkeitsprüfung sohin nach § 28 Abs. 2 und 3 VwGVG vom LVwG im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens vorzunehmen.

 

Beschlagwortung:

Fremdenrecht – Übergangsbestimmungen; Rechtskraft und Bindungswirkung, keine; Ausweisung; Rot-Weiß-Rot-Karte; Interessenabwägung, verfahrensbezogene; Sachentscheidung