LVwG-600331/2/ZO/KR

Linz, 02.06.2014

I M   N A M E N   D E R   R E P U B L I K

 

 

Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat durch seinen Richter Mag. Zöbl über die Beschwerde der X, geb. 1982, vertreten durch RA X, X, vom 15.4.2014, gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptfrau des Bezirkes Rohrbach, vom 25.3.2014, VerkR96-377-2014, wegen einer Übertretung der StVO

 

zu Recht   e r k a n n t :

 

I.           Der Beschwerde wird stattgegeben, das angefochtene Straferkenntnis aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt.

 

 

II.        Die Beschwerdeführerin hat für das Beschwerdeverfahren keinen Kostenbeitrag zu bezahlen.

 

 

III.         Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision der Beschwerdeführerin an den Verwaltungsgerichtshof  nicht zulässig; für die belangte Behörde und die revisionslegitimierte Formalpartei ist keine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof zulässig.

 

 

 

 


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

Zu I. und II.:

1.           Die Bezirkshauptmannschaft Rohrbach hat der Beschwerdeführerin mit dem angefochtenen Straferkenntnis vorgeworfen, dass sie am 27.1.2014 um 8:45 Uhr in Schwarzenberg am Böhmerwald auf der L 1560 bei Kilometer 1,980 in Fahrtrichtung Klaffer am Hochficht als Lenkerin des PKW mit dem Kennzeichen X beim Vorbeifahren an einem Fahrzeug andere Straßenbenützer behindert habe, da ein Lenker eines Fahrzeuges des Gegenverkehrs zur Vermeidung eines Zusammenstoßes sein Fahrzeug in die angrenzende Wiese habe Auslenken müssen.

Sie habe dadurch eine Verwaltungsübertretung gemäß § 17 Abs. 1 StVO begangen, weshalb über Sie gemäß § 99 Abs. 3 lit. a StVO eine Geldstrafe in Höhe von 100 Euro (Ersatzfreiheitsstrafe von 30 Stunden) verhängt wurde. Weiters wurde Sie zur Zahlung eines Verfahrenskostenbeitrages in Höhe von 10 Euro verpflichtet.

 

2.           In der dagegen rechtzeitig eingebrachten Beschwerde machte die Beschwerdeführerin zusammengefasst geltend, dass die Behörde die Anforderungen des § 17 Abs. 1 StVO überspanne. Der OGH gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass in Fällen, in denen der Vorbeifahrende die für das Vorbeifahren einschließlich des Wiedereinordnens auf die rechte Fahrbahnhälfte erforderliche Wegstrecke nicht einsehen kann, das Vorbeifahren erforderlichenfalls nur mit Schrittgeschwindigkeit beginnen und bis zur Erlangung entsprechender Sicht fortzusetzen habe. In Abweichung von dieser Rechtsprechung habe die Bezirksmannschaft Rohrbach verlangt, dass sich die Beschwerdeführerin eines Einweisers bediene. Eine derartige Forderung habe der OGH aber nur in einer einzigen Entscheidung aus dem Jahr 1978 erhoben und in weiterer Folge nicht mehr aufrecht erhalten. Diese Rechtsauffassung sei daher als überholt anzusehen.

 

Wegen des auf ihrer Fahrbahnhälfte abgestellten Lkw habe sie nur eine sehr geringe Sicht auf den Gegenverkehr gehabt, weshalb sie in Schrittgeschwindigkeit an diesem Lkw vorbeigefahren sei. Sie habe sich daher rechtskonform verhalten, weshalb eine Bestrafung nicht zulässig sei. Es wurde daher beantragt, den Strafbescheid aufzuheben und das Verwaltungsstrafverfahren einzustellen.

 

3.           Die Verwaltungsbehörde hat den Akt dem Landesverwaltungsgericht Oberösterreich ohne Beschwerdevorentscheidung vorgelegt. Es ergibt sich daher dessen Zuständigkeit, wobei es durch den nach der Geschäftsverteilung zuständigen Einzelrichter zu entscheiden hat (§ 2 VwGVG).


 

 

4.           Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt. Bereits aus diesem ergibt sich, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist, weshalb gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG die Verhandlung entfällt.

 

4.1. folgender Sachverhalt steht fest:

 

Die Beschwerdeführerin lenkte zu der oben angeführten Zeit ihren Pkw auf der L1560 in Fahrtrichtung Klaffer am Hochficht. Bei Kilometer 1,980 war am rechten Fahrbahnrand kurz nach einer Fahrbahnkuppe ein Sattelkraftfahrzeug abgestellt, weil dessen Lenker einen Harvester verladen wollte.

 

Die Beschwerdeführerin hatte aufgrund des abgestellten Sattelkraftfahrzeuges und des Fahrbahnverlaufes nur eine sehr eingeschränkte Sicht auf den Gegenverkehr, weshalb sie nach ihren Angaben (polizeiliche Einvernahme am 13.2.2014) kurz stehen blieb und links am Sattelkraftfahrzeug vorbei blickte. Ihre Beifahrerin habe rechts am Sattelkraftfahrzeug vorbei gesehen. Da sie keinen Gegenverkehr gesehen habe, sei sie mit etwas schnellerer Schrittgeschwindigkeit am Sattelkraftfahrzeug vorbeigefahren. Als sie etwa auf halber Höhe des Sattelkraftfahrzeuges gewesen sei, habe sie den Gegenverkehr wahrgenommen. Sie sei so weit wie möglich nach rechts gefahren und habe gebremst, gleichzeitig sei der Gegenverkehr ebenfalls nach rechts ausgewichen und in die Wiese gefahren.

 

Diese Angaben wurden im Wesentlichen von ihrer Beifahrerin, Frau X bei der polizeilichen Vernehmung am 17.2.2014 bestätigt.

 

Der Lenker des Sattelkraftfahrzeuges gab bei seiner Befragung am 4.2.2014 an, dass er noch mit Schrittgeschwindigkeit gefahren sei, als ihn die Beschwerdeführerin überholt habe. Zur selben Zeit sei auf der Gegenfahrbahn ein schwarzer Pkw entgegengekommen, dessen Lenkerin ihr Fahrzeug nach rechts in die angrenzende Wiese Auslenken musste, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Zur Fahrgeschwindigkeit des - nach seinen Angaben - überholenden Fahrzeuges der Beschwerdeführerin machte er keine Angaben.

 

Die Unfallgegnerin der Beschwerdeführerin gab zum Sachverhalt bei der Befragung durch die Polizei am 5.2.2014 an, dass ein Sattelschlepper aus ihrer Sicht am linken Fahrbahnrand gestanden sei. Als sie sich diesem näherte, habe sie bemerkt, dass ihr auf ihrem Fahrstreifen ein Pkw entgegenkomme, dieser sei  am Sattelschlepper vorbeigefahren. Um einen Zusammenstoß zu verhindern, habe sie ihren Pkw nach rechts in die angrenzende Wiese gelenkt. Die Lenkerin des Gegenverkehrs sei in weiterer Folge, nach dem sie beim Sattelschlepper vorbei gewesen sei, stehen geblieben. Aus ihrer Sicht sei ihr das Fahrzeug ungebremst entgegengekommen, genauere Angaben zu der von der Beschwerdeführerin eingehaltenen Geschwindigkeit konnte sie jedoch ebenfalls nicht machen.

 

5.           Darüber hat der zuständige Richter des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich in rechtlicher Hinsicht folgendes erwogen:

 

5.1. Gemäß § 17 Abs. 1 1. Satz StVO 1960 ist das Vorbeifahren nur gestattet, wenn dadurch andere Straßenbenützer, insbesondere entgegenkommende, weder gefährdet noch behindert werden.

 

5.2. Der Wortlaut dieser Bestimmung legt auf den ersten Blick nahe, dass in Fällen, in denen die rechte Fahrbahnhälfte durch ein haltendes Fahrzeug verstellt ist und der weitere Fahrbahnverlauf nicht eingesehen werden kann, an diesem Fahrzeug tatsächlich überhaupt nicht (oder allenfalls nur unter Verwendung eines Einweisers) vorbeigefahren werden darf. Dies würde bei strenger Auslegung dazu führen, dass durch ein (wenn auch vorschriftswidrig abgestelltes) Fahrzeug in solchen Situationen der Verkehr in eine Fahrtrichtung völlig zum Stillstand kommen würde, sofern kein Einweiser vorhanden ist.

 

Der OGH hat deshalb diese Bestimmung nicht so streng ausgelegt sondern vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass der Vorbeifahrende, wenn er die für das Vorbeifahren einschließlich des Wiedereinordnens auf der rechten Fahrbahnhälfte erforderliche Wegstrecke nicht einsehen kann, das Vorbeifahren erforderlichenfalls nur mit Schrittgeschwindigkeit beginnen und bis zur Erlangung entsprechender Sicht fortsetzen darf (vergleiche die bei Dittrich - Stolzlechner, Straßenverkehrsordnung, 3. Auflage, RZ 17 angeführte Judikatur). Zur Vermeidung gefährlicher Situationen hat in diesen Fällen der Gegenverkehr seine Geschwindigkeit nach dem Grundsatz des „Fahrens auf halbe Sicht“ zu wählen.

 

Unter Berücksichtigung dieser - praktische Bedürfnisse berücksichtigenden - Rechtsprechung des OGH durfte die Beschwerdeführerin am gegenständlichen Sattelkraftfahrzeug in Schrittgeschwindigkeit vorbeifahren. Mit welcher Geschwindigkeit sie dies tatsächlich gemacht hat, kann mangels entsprechender Angaben der Unfallgegnerin sowie des Lkw-Fahrers in der Polizeianzeige nicht festgestellt werden. Die Angaben der Beschwerdeführerin sowie ihrer Beifahrerin können unter diesen Umständen nicht widerlegt werden, weshalb im Zweifel davon auszugehen ist, dass die Beschwerdeführerin tatsächlich nur mit Schrittgeschwindigkeit am Sattelkraftfahrzeug vorbeigefahren ist. Es kann daher nicht mit der für ein Strafverfahren erforderlichen Sicherheit bewiesen werden, dass die Beschwerdeführerin eine für das Vorbeifahren unzulässig hohe Geschwindigkeit eingehalten hätte, weshalb Ihrer Beschwerde stattzugeben war. Eines Einweisers bedurfte sie auf Grund der o.a. Rechtsprechung nicht.

 

Zu III.: Die ordentliche Revision ist für die belangte Behörde und die revisionsberechtigte Formalpartei unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Vorbeifahren ab, noch fehlt es an einer solchen. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Ebenfalls liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g

Gegen dieses Erkenntnis besteht innerhalb von sechs Wochen ab dem Tag der Zustellung die Möglichkeit der Erhebung einer Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ist unmittelbar bei diesem einzubringen. Die Abfassung und die Einbringung einer Beschwerde müssen durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt bzw. eine bevollmächtigte Rechtsanwältin erfolgen. Für die Beschwerde ist eine Eingabegebühr von 240.- Euro zu entrichten.

Da für den vorliegenden Fall gemäß § 25a Abs. 4 VwGG eine Revision nur wegen Verletzung in subjektiven Rechten (Art. 133 Abs. 6 Z 1 B-VG) ausgeschlossen ist, steht der belangten Behörde / der revisionslegitimierten Formalpartei die außerordentliche Revision beim Verwaltungsgerichtshof offen, die beim Landesverwaltungsgericht Oberösterreich einzubringen ist.

 

 

Landesverwaltungsgericht Oberösterreich

 

 

Mag. Gottfried Zöbl

 

 

 

 

LVwG-600331/2/ZO/KR vom 2. Juni 2014

 

Erkenntnis

 

Rechtssatz

 

§ 17 Abs. 1 1. Satz StVO 1960

 

Gemäß § 17 Abs. 1 1. Satz StVO 1960 ist das Vorbeifahren nur gestattet, wenn dadurch andere Straßenbenützer, insbesondere entgegenkommende, weder gefährdet noch behindert werden.

 

Der Wortlaut dieser Bestimmung legt auf den ersten Blick nahe, dass in Fällen, in denen die rechte Fahrbahnhälfte durch ein haltendes Fahrzeug blockiert ist und der weitere Fahrbahnverlauf nicht eingesehen werden kann, an diesem Fahrzeug tatsächlich überhaupt nicht (oder allenfalls nur unter Verwendung eines Einweisers) vorbeigefahren werden dürfte, weil eine Gefährdung eines möglichen Gegenverkehrs nie ausgeschlossen werden könnte. Dies würde bei strenger Auslegung dazu führen, dass durch ein (wenn auch vorschriftswidrig) abgestelltes Fahrzeug in solchen Situationen der Verkehr in eine Fahrtrichtung völlig zum Stillstand kommen würde, sofern kein Einweiser vorhanden ist.

 

Der OGH vertritt deshalb für das Vorbeifahren in diesen Fällen die Auffassung, dass der Vorbeifahrende, wenn er die für das Vorbeifahren einschließlich des Wiedereinordnens auf der rechten Fahrbahnhälfte erforderliche Wegstrecke nicht einsehen kann, das Vorbeifahren erforderlichenfalls nur mit Schrittgeschwindigkeit beginnen und bis zur Erlangung entsprechender Sicht fortsetzen darf (vgl. Dittrich - Stolzlechner, Straßenverkehrsordnung, 3. Auflage, RZ 17).

Zur Vermeidung gefährlicher Situationen hat in diesen Fällen der Gegenverkehr seine Geschwindigkeit nach dem Grundsatz des „Fahrens auf halbe Sicht“ zu wählen.

 

Unter Berücksichtigung dieser - praktische Bedürfnisse berücksichtigenden - Rechtsprechung des OGH durfte die Beschwerdeführerin am gegenständlichen Sattelkraftfahrzeug in Schrittgeschwindigkeit vorbeifahren. Da sie dies behauptet und ihre Angaben durch die Unfallgegner nicht widerlegt werden können, ist – zumindest im Zweifel - davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin keine Übertretung des § 17 Abs. 1 StVO begangen hat. Eines Einweisers bedurfte sie auf Grund der o.a. Rechtsprechung nicht.

 

Beschlagwortung:

 

Vorbeifahren an abgestelltem Fahrzeug; keine Einsehbarkeit des Gegenverkehrs